Bergabenteuer


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Aus dem Leben eines Lastenträgers

Namche Bazar, 18.03.2006

Es existiert so etwas wie Verbundenheit, wenn man sich tagelang auf demselben Weg befindet, sich immer wieder begegnet, innehält, ein wenig plaudert. Das ist so bei uns in den Alpen, und das ist auch hier in Nepal so.

In Nuntala, am Ende des vierten Trekking-Tages, habe ich Kisan zum ersten Mal getroffen. Ich habe ihn für einen Lodge- Besitzer oder den Dorflehrer oder einfach für den Sohn aus einer wohlhabenden Familie des Ortes gehalten. Seine offene Art, sein freundliches und doch selbstbewusstes Auftreten, sein perfektes Englisch, all dies ließ mich ihn der gebildeten Oberschicht zuordnen. Aber da lag ich völlig falsch.

Kisan lebt nicht in Nuntala, er ist wie ich auf dem Weg. Und wie er auf dem Weg ist! Seit Tagen schwanken meine Gefühle zwischen Bewunderung und Bedauern, wenn ich sie sehe – die Helden des Fuß-Highways von Jiri nach Namche Bazar. Ich spreche von den Trägern, die in geflochtenen Körben riesige Lasten über holprige Wege transportieren. Sie versorgen die Dörfer entlang der Route mit allen lebensnotwendigen und auch weniger notwendigen Gütern. Und sie sind selbständige Unternehmer. Je mehr sie auf ihren Rücken, oder besser gesagt auf ihre Stirn laden, desto mehr verdienen sie. Die Körbe liegen auf dem Rücken auf und werden mittels eines Bandes, das mit der Stirn gehalten wird, getragen.

Unmengen von Trägern kämpfen sich über die steilen Fußwege, unter ihnen auch Frauen und 12-13-jährige Kinder. Oft bilden sie Gruppen, die über die gesamte Strecke oder gleich für mehrere Jahre zusammenbleiben und sich gegenseitig unterstützen. Wie Bergsteiger in großen Höhen kommen sie sehr langsam, aber stetig voran. Hundert Schritte, dann folgt eine Rast im Stehen. Alle Träger führen einen T- förmigen Stock mit sich. Beim Gehen im teils schwierigen Gelände hilft er ihnen, das Gleichgewicht zu halten, beim Rasten klemmen sie ihn unter den Korb und können so entlastet im Stehen Pause machen. Bei allen Lodges und Teehäusern gibt es kleine Mauern, wo die Körbe in 70-80 cm Höhe abgestellt werden können. Vom Boden würde man diese Lasten wohl kaum in die Höhe bringen.

Kisan lebt im kleinen Dorf Chitre, kaum eine Stunde zu Fuß von Jiri entfernt. Mit seinen 21 Jahren ist er schon verheiratet und stolzer Vater einer 16 Monate alten Tochter. Seit Jahren versorgen er und seine Freunde die Menschen der Solu Khumbu- Region mit Lebensmitteln, Kleidung, Schuhen und sogar HiFi- Geräten. Am liebsten tragen sie ihre Lasten bis hinauf nach Namche Bazar, denn dann können sie pro Kilogramm den größten Gewinn machen. Zehn Tage benötigen sie für diese Strecke, für die ich als Trekker mit 20 kg Gepäck 7 Tage unterwegs bin. Die Ausrüstung der Träger ist extrem dürftig. Zum einen wird reduziert, da alles getragen werden muss, zum anderen können sich diese Menschen keine bessere Ausrüstung leisten. Alle bewältigen sie die schwierigen Wege in falschen Converse- Schuhen ohne Sohlen-Profil, manche müssen sich sogar mit Flip-Flops begnügen. Wenn es möglich ist, versuchen Kisan und seine Freunde Namche Bazar stets am Freitag zu erreichen. Denn dann können sie am wöchentlichen Samstagsmarkt ihre Waren selbst verkaufen. Das bringt bis zu 100 Rupien pro Kilogramm an Gewinn (1 Euro = 85 Rupien). Für jene Waren, die sie am Markttag nicht verkaufen können, haben sie ein kleines Lager in Namche Bazar angelegt.

Gut ausgeschlafen schlendere ich zu Namches Samstagsmarkt. Da stehen sie schon, Kisan und seine Freunde, bieten ihre Waren feil, lachen, plaudern, feilschen. Diesmal hat Kisan 95 Kilogramm in das 3450 Meter hoch gelegene Namche Bazar hinauf geschleppt. Dennoch ist er nur wenige Stunden nach mir dort oben angekommen – getragen wird von den ersten Sonnenstrahlen bis zur Dunkelheit. Wenn alles optimal läuft, könnte er so 9500 Rupien (ca. 110 Euro) Gewinn machen. Aber Gewinn ist nicht gleich Gewinn. Schließlich muss er während seiner Zwei Wochen-Tour, in drei Tagen läuft er ohne Gepäck nach Jiri zurück, auch seinen Lebensunterhalt bestreiten. 350 Rupien pro Tag, wenn er diszipliniert lebt; aber manchmal hauen die Jungs gehörig auf den Putz und dann sind gleich mal 600-700 Rupien weg. Zum Vergleich: ich habe während meines Trekkings gut 1000 Rupien pro Tag verbraucht, dabei aber auch eher auf den Putz gehauen.

Wenn Kisan seine Waren gut in Namche Bazar anbringt und diszipliniert lebt, dann kann er nach zwei Wochen mit 4500 Rupien (ca. 53 Euro) heimkehren. Das ist viel Geld für einen Nepali in so kurzer Zeit und 10-12 solcher Touren kann er pro Jahr machen.

“Diesmal laufe ich nicht nach Jiri zurück”, erklärt er mir und seine Augen leuchten auf. In Lukla wird er auf eine deutsche Trekking-Gruppe warten, für die er als Träger arbeiten wird. “Das ist gutes Geld und leichte Arbeit.” 500 Rupien erhält er pro Tag, sogar 900, wenn er für sein Essen und Schlafen selbst aufkommen muss - mehr Geld als er bei seiner üblichen Träger- Arbeit verdienen würde. Zudem sind die Lasten für Träger von Trekking-Gruppen auf 20-30 kg limitiert. Da fliegt man ja förmlich über die Wege. Nur die Kälte, die wird Kisan zu schaffen machen. Er wird keine andere Ausrüstung haben als jene, mit der er nach Namche aufgestiegen ist – kein Schlafsack, keine Decke, keine warme Bekleidung, kein solides Schuhwerk. Und mit Trekking-Gruppen muss er doch in Höhen von über 5000 Metern aufsteigen. Trotzdem sieht Kisan seine Arbeit mit Touristen als absoluten Traumjob an – ein- bis zweimal pro Jahr kann er diesen Glücksfall genießen.

Kisan hat nur wenige Jahre die Grundschule besucht. Sein wirklich erstaunliches Englisch hat er ausschließlich durch seine Arbeit mit Touristen erlernt. Schreiben kann er Englisch allerdings nicht. Gerne würde er als Trekking- Guide fix für eine Agentur arbeiten, aber dafür benötigt man nun auch schon in Nepal eine Lizenz. Auch ein halbjähriges College in Kathmandu würde er gerne besuchen. Aber das kostet 18000 Rupien, mit Lebenshaltungskosten in der Hauptstadt ist er schnell bei 50000 Rupien (ca. 600 Euro) angelangt, ohne etwas in dieser Zeit zu verdienen. Solche Träume muss er als junger Vater wohl weit, weit wegschieben. Seiner Fröhlichkeit scheint dies aber keinen Abbruch zu tun. Am Ende des Markttages verstaut er seine Waren im Lager, lachend laufen er und seine Freunde hinunter nach Lukla, wo die Trekking-Gruppe eintreffen wird. Ein neuer Tag – ein neues Glück!







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