Bergabenteuer


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Grönland - auf dem Dach der Arktis

Riesige Eisflächen, von gähnenden Spalten durchsetzt, sie rücken immer näher. Seit mehr als einer Stunde fliegen wir über eine unwirkliche Welt, schroffe Bergketten aus Basalt, fast zur Gänze bedeckt mit dem arktischen Eis. Dazwischen mäandern Gletscherströme, breiter als jeder Fluss dieser Erde. Kurz spritzt der Schnee unter uns auf, die Twin Otter gleitet sanft auf dem Hauptgletscher der Watkins Range aus, ein Gletscher, der so selten menschlichen Besuch hat, dass er noch nicht einmal einen Namen bekommen hat.

Minuten später stehen Elke, Achim, Stefan und ich bei minus 22 Grad mit zehn riesigen Gepäckstücken knietief im Schnee. Die Twin Otter hebt über der selbst gefrästen Runway ab und verschwindet als winziger Punkt am Horizont. Die nächste Behausung liegt 400 Kilometer entfernt von uns an der Küste. Zurückgelassen in totaler Einsamkeit! Totale Einsamkeit? Nein, doch nicht ganz! Sechs Mitglieder einer internationalen Expedition sind mit zwei Arktis-erfahrenen Bergführern schon gestern hier gelandet und haben ihr Lager gleich neben der Runway errichtet.

Die nächsten Stunden arbeiten wir daran, eine Plattform für unsere Zelte auszuschaufeln und eine Mauer als Windschutz zu errichten. Dunkel wird es zwar nie in diesem Land, doch inzwischen hat sich die Sonne hinter den Bergketten verkrochen und damit werden die minus 22 Grad auch körperlich fühlbar. In Eiseskälte kochen wir unser Abendessen, knapp vor Mitternacht verkriechen wir uns in unseren Schlafsäcken. Den nächsten Tag gleich zeitig am Morgen mit full-day-action zu starten, dafür fehlt uns der Mumm. Akklimatisation an unsere neue Lebenswelt ist angesagt. Die andere-Expedition will heute Richtung Gunnbjørns Fjeld aufbrechen und ein Zwischenlager auf 2850 Meter Höhe errichten. Das Gleiche erwartet uns dann morgen.

Am zweiten Tag geht es also dann so richtig los! Wir wollen mit unserem gesamten Gepäck ebenfalls bis auf 2850 Meter aufsteigen. Das bedeutet randvolle Pulkas, jede mit gut 40 Kilogramm beladen. Zusätzlich zur langen Wegzeit erwarten uns ein Lagerabbau und ein Lageraufbau. Das wird ein langer Tag, 14 Stunden harte Arbeit.

Nach sechs Stunden mühsamer Schlepperei erreiche ich um 17 Uhr völlig erschöpft eine Höhe von 2700m. Eigentlich sind es noch 150m bis zum vorgesehenen Lagerplatz, aber auch die internationale Expedition ist gestern nicht weiter gekommen und hat hier ihr Lager errichtet. Es wäre natürlich dumm, die Kommunikationsmöglichkeiten mit der anderen Gruppe zu kappen. Daher gehen auch wir nicht weiter und errichten neben ihnen unser Lager.

Während wir unseren Lagerplatz einebnen, trudeln auch die anderen von oben kommend auf ihren Skiern ein. Sie waren heute zum Sattel in knapp 3400 Metern Höhe aufgestiegen, zu dem Ort also, wo die Kletterei am Berg beginnt. Ian, ihr Leiter, ist höchst skeptisch, dass der Gipfel in diesem Jahr zu machen sei. Zum ersten Mal seit 1989, zum ersten Mal, seit es hier fast jährlich Expeditionen gibt, sind alle Flanken und Grate total vereist. Ian spricht von 60 Grad Steilheit und Blankeis. Das ist frustrierend zu hören, denn einer solchen Herausforderung sind wir ganz sicher nicht gewachsen. Viel haben wir investiert, um hierher zu kommen. Und nun erwarten uns die schlechtesten Verhältnisse seit einem Vierteljahrhundert und werden uns vermutlich um unsere Chancen an diesem Traumberg bringen.

Für morgen, den Tag, an dem die andere Gruppe den Gipfel versuchen wird, habe ich einen Ruhetag herausgeschunden. Noch einmal 14 Stunden am Stück, das würde ich nicht schaffen.

Trotz körperlicher Ruhe verbringen wir den nächsten Tag in ziemlicher Anspannung. Welche Nachrichten wird die internationale Expedition von ganz oben bringen? Es sind keine guten! Schon am Einstieg zum Gipfeltrapez mussten sie kehrt machen. "Blue ice" und viel zu steil, keine Chance! Das sind Ian Barkers Worte. Morgen werden sie absteigen und weniger anspruchsvolle Gipfel versuchen. Auch wir sollten absteigen. Welche Chancen können wir uns als unabhängige Gruppe ohne Bergführer ausrechnen, wenn diese Arktis-erprobten Haudegen keinen Weg nach oben gefunden haben? Doch sollen wir tatsächlich aufgeben, ohne einen einzigen Gipfelversuch unternommen zu haben?

Zeitig am Morgen machen wir uns bereit zur Mission Impossible. Der Weg zum 3400 Meter hohen Sattel, dem Einstieg zum Gipfelaufbau, bereitet keine technischen Schwierigkeiten, kostet aber viel Kraft und Zeit.

Nachdem wir unsere Schneeschuhe gegen die Steigeisen getauscht haben und unsere Kletterausrüstung angelegt haben, stehen wir erst um 15 Uhr am Einstieg zum Südwest-Grat, der Normalroute zum Gipfel. Ja, sie ist total vereist und in ihrer Steilheit nicht einsehbar.

Wir lassen diese Route links liegen, wir wollen hier keine Zeit verlieren. Unser nächstes Ziel ist der Nordwest-Grat. Aus den Karten wissen wir, dass dieser weniger steil als der Südwest-Grat ist. Er wird trotzdem so gut wie nie begangen, da man, um ihn zu erreichen, die gesamte Westwand im unteren spaltenreichen Teil traversieren und dann auch noch die mächtige Randkluft überwinden muss.

Die Westwand wird nun Meter um Meter steiler. Bei 45 Grad und mehr macht es keinen Sinn mehr, zu viert gleichzeitig am Seil zu gehen. Fällt einer, so fallen alle! Zudem bietet die Westwand nun keinen Auslauf mehr. Gähnende, weit offene Gletscherspalten würden uns bei einem Fehltritt für immer verschlingen.

Stefan, der beste Kletterer von uns, steigt voraus und setzt Eisschrauben. Wir steigen gleichzeitig weiter und lassen das Seil durch den Karabiner an der Eisschraube laufen. Wenig später ist unser Versuch, den Nordwest-Grat zu erreichen, gescheitert.

Wir befinden uns in 3600m Höhe, weniger als 100 Meter unter dem Gipfel. Der "rettende" Nordwest-Grat ist nur 20 Meter von uns entfernt und bleibt dennoch unerreichbar. Stefan hat eine weit offene Gletscherspalte mühsam überquert und befindet sich nun in wirklich steilem Gelände. Zudem trennt ihn eine weitere Gletscherspalte vom Grat und die Eisbeschaffenheit bietet keine weitere Sicherungsmöglichkeit. Wir müssen zurück!, meint Stefan. Wir müssen umkehren, zurück zum Lager, denn es ist bereits 16:40 Uhr! Auch wenn es hier nicht finster wird, so wissen wir doch, dass es in den Nachtstunden, wenn die Sonne hinter anderen Gipfeln verschwindet, unerträglich kalt wird.

Die notwendige Umkehr trifft uns wie ein Keulenschlag. Eine große Leere in jedem von uns! Was haben wir nicht alles investiert, um zu diesem Berg zu kommen. Klar, die andere Gruppe ist auch gescheitert, aber nun sind wir dem Gipfel bis auf 95m nahe gekommen und müssen doch mit leeren Händen umkehren. Ich meine, wir sollten uns noch einmal ganz genau die Westwand ansehen, ob es da nicht doch ein Schlupfloch hinauf zu einem der beiden Gipfelgrate gibt.

Keiner von uns will hier wirklich aufgeben, keiner will Endgültigkeit, jeder will sich an den berühmten Strohhalm klammern. Wir verlassen die Aufstiegsspur und queren etwas höher hinein in die Mitte der Westwand. Wir wollen das Ganze aus der Nähe betrachten, kurz vor der Stelle, wo die Wand dann wirklich steil wird.

Elke und ich sind physisch am Ende. Seit weit mehr als 8 Stunden sind wir im Aufstieg, ohne Aussicht auf ein Ende. Wir geben auf! Schluss! Aber Achim und Stefan sollen ihre Chance bekommen, wir wollen hier auf sie warten. Gemeinsam wollen wir das Nadelöhr durch die Westwand für die beiden finden.

Es ist 17:00 Uhr, wir befinden uns auf 3550 Metern Höhe, nur 145 Meter unter dem Gipfel, den wir von hier nicht sehen können. Wir blicken hinauf in die Westwand, die noch nie von einem Menschen durchstiegen worden ist und tasten sie mit unseren Augen Meter für Meter nach einem Hoffnungsschimmer ab.

Die gesamte Eiswand ist an den Abrissstellen zu den Gipfelgraten halbkreisförmig von einer gewaltigen, unbegehbaren Randkluft umgeben. Dort, ganz weit rechts oben?! Ist sie da nicht für einen knappen Meter unterbrochen? Ist das eine Überwechtung oder gar eine dünne Schneebrücke? Das Nadelöhr?

Stefan und Achim schultern ihre Rucksäcke und steigen in die Wand ein. Mit jedem Schritt wird das Terrain steiler, die Schneeverhältnisse erlauben es aber, eine gut begehbare Spur anzulegen. Nur an wenigen Stellen ist es so eisig, dass sie auf Frontalzacken-Technik umsteigen müssen. Nun müssen sie vollends ihrem eigenen Können vertrauen, denn das Seil bleibt an unserem Rastplatz zurück.

Elke und ich schauen den beiden nach, hoffen, dass sie es schaffen werden und sind doch wehmütig, dass wir nicht mehr dabei sein können. Ich messe meinen Blutzucker. 105 mg/dl! Fast ideal wie ich Blutzucker-technisch die anstrengenden letzten Stunden über die Runden gebracht habe. Ich esse einen Schokoriegel, 2 BE. Damit sollte ich für die nächsten 3-4 Stunden Ruhe vor Unterzuckerungen haben. Ich brauche nicht viele Broteinheiten, um meinen Blutzucker fern der Hypo-Grenze zu halten.

Nein, ich will nicht hier unten bleiben und warten! Volles Risiko! Ich lasse meinen Rucksack, meine gesamte Rückversicherung, im Schnee liegen und folge den beiden ohne Gepäck. Ohne Last und in der gut angelegten Spur bin ich nun wesentlich schneller als die beiden und kann sie bald einholen. Elke sieht das und denkt, das kann ich auch.

Erschöpft vom Spuren in der steilen Wand ist nun Achim am Ende, nichts geht mehr. Nur noch fünfzig Höhenmeter verrät uns der Höhenmesser, dennoch erhebt sich die Westwand unerreichbar hoch über uns gegen den Himmel, der Gipfel ist noch nicht in Sicht.

Stefan und ich traversieren nun am äußeren Rand einer mächtigen Gletscherspalte zu der Stelle, wo wir unser Nadelöhr erhoffen. Achim, der sich langsam wieder erholt, und Elke folgen wenig später nach. Vor uns tut sich die gewaltige Randkluft auf, ihr Grund verliert sich 40, 50 Meter tiefer in der Finsternis. Eine riesige, bodenlose Kathedrale, verziert mit unzähligen Säulen und Skulpturen aus blankem Eis! Ein schaurig-schöner Anblick! Schaurig, denn ein Fehltritt würde uns für immer in dieser Kathedrale verschlingen!

Tatsächlich! Das, was wir von unten erkennen konnten, ist wirklich eine kleine Schneebrücke über die Randspalte, nicht breiter als 70 Zentimeter, nicht tiefer als 40 Zentimeter. Kein Ruhekissen!

Stefan setzt bedächtig einen Fuß an den Spaltenrand, macht einen riesigen Schritt nach oben über die Spalte, um die Brücke nicht unnötig zu belasten und lässt die Pickel-Haue in das steile Eis auf der anderen Seite sausen, um sich gleich aus dem Spaltenbereich zu ziehen. Nun folgen wir ihm auf die gleiche Weise, auch bei uns bleibt die Schneebrücke unbeschadet.

Der Südwest-Grat ist zum Greifen nahe, vielleicht noch sieben oder acht Meter über uns. Die letzten Meter fordern alle Konzentration, extrem steiles und glashartes Eis. Auf den Frontalzacken arbeiten wir uns hinauf. Oben treffen wir auf flaches, ausladend breites Gehgelände. Vor mir sehe ich den Gipfel und halte auf ihn zu. Noch ehe ich ihn erreiche, bemerke ich, dass das Gelände dahinter weiter ansteigt. Noch ein Gipfel, der keiner ist, und noch einer. Wieder erreiche ich einen dieser Vorgipfel und sehe in etwa 100 Metern Entfernung eine weitere, noch höhere Erhebung. Dahinter geht es nach allen Richtungen bergab!

So, als ob mir jetzt noch jemand den Gipfel streitig machen könnte, haste ich hinüber zur letzten Erhebung, zu meinem, zu unserem Gipfel. Es ist 18 Uhr und wir stehen auf dem Dach der Arktis. Nirgends auf der nördlichen Kappe der Erde kann man höher steigen. Die Lufttemperatur beträgt minus 32 Grad, doch diese extreme Kälte spüren wir nicht. Es ist völlig windstill und die Sonne steht noch hoch und wärmend am Himmel.

Welch exklusiver Gipfel! Es gibt nicht viele Menschen, die diesen Ausblick genießen durften. Unter uns eine Welt, die so gänzlich anders ist als jeder andere Teil unseres Planeten! Breite Gletscherströme winden sich über Hunderte von Kilometern durch steil aufragende Bergketten, deren Basaltfelsen die Eisdecke wie schwarze Streifen durchbrechen. Tausend Meter unter uns zwei winzige Farbtupfen im Eis - unsere Zelte - so winzig und unbedeutend wie der Mensch selbst in dieser alles dominierenden Naturgewalt.

Unsere Emotionen schwappen über, als wir uns in die Arme fallen! Unsere Gelassenheit kehrt aber erst wieder, als wir die schwierigen Passagen auch im Abstieg gut hinter uns gelassen haben und wieder bei unseren Rucksäcken eintreffen.
Was für ein Tag! Was für eine Besteigung! Vor zwei Stunden hat alles noch so unmöglich ausgesehen, Elke und ich hatten schon aufgegeben. Dann hatte Achim seine Schwächephase und nun sind wir alle am Gipfel gestanden. Elke liegt minutenlang im Schnee, alle Vier von sich gestreckt - und genießt! Die Temperaturen jenseits der minus 30 Grad scheint sie nicht zu spüren. Niemand von uns hat Eile. Wir wissen, dass wir während des Abstiegs die wärmende Sonne verlieren werden, aber das ist uns allen in unserer Euphorie ziemlich egal. Noch einmal müssen wir uns ins Seil einbinden, um über den einfachen, aber spaltenreichen Wandfuß zum Sattelgrat abzusteigen.

Nach mehr als 12 Stunden haben wir die Schwierigkeiten des Berges hinter uns gelassen, tauschen unsere Steigeisen wieder mit den Schneeschuhen. Die anderen eilen hinunter zu den Zelten. Ich tue, was ich immer tue, wenn ich nach einem außergewöhnlichen Gipfel wieder sicheres Gelände unter meinen Füßen spüre. Ich lasse mich zurück fallen, will allein sein mit meinen Gedanken. Ich schlendere bergab, mein Kopf ist voll von den Eindrücken und Ereignissen der letzten Stunden.

Hin und wieder setze ich mich auf meinen Rucksack und lasse die Stille auf mich wirken. Die Stille ist nicht wirklich still. Leichter Wind bläst über die Gletscherflächen und durch die Spalten. Bizarre Geräusche entstehen. Manchmal klingt es wie Gesang, manchmal wie menschliche Stimmen. Oder ist es doch ein Eisbär, der die Geräusche verursacht? Zur Sicherheit mache ich einen Rundum-Blick. Nein, ich bin hier völlig allein in einer schweigenden, klingenden Natur.

Hunderte Gedanken! Nach Jahren ist mir wieder ein Weltgipfel gelungen und er war hart erkämpft. Nun bin ich in allen großen Regionen der Erde, den sechs bewohnten Kontinenten sowie der Antarktis und der Arktis, auf dem höchsten Berg gestanden. Nur wenige Menschen auf dieser Welt können diese Erfahrung mit mir teilen.



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